Februar 2017

Februar 2017


Liebe Scholé-Freunde,

das größte Ereignis der letzten Wochen war der Entschluss der Verantwortlichen, den provisorischen Standort des Colearning Space in der Hofmühlgasse und damit zugleich seine provisorische Funktion als reines Lernzentrum demnächst aufzugeben: Im 3. Bezirk, Markhofgasse 19, entsteht in einer ehemaligen Druckerei gerade „MARKHOF, das Dorf in der Stadt, powered by Colearning“. Hier soll sich unsere Vision vom gemeinschaftlichen Leben, Lernen und Arbeiten ab Frühjahr 2017 verwirklichen! Der Folder im Anhang enthält alle näheren Informationen darüber. BITTE LESEN UND AN INTERESSIERTE WEITERLEITEN!

Junge und alte Colearner, Lernbegleiter, Eltern und Kinder, alle sind in dieses Projekt eingebunden. Seit Monaten wird geplant, geträumt, gerechnet, diskutiert, gezeichnet und gearbeitet bis zum Umfallen. Manchmal geht es hoch her, Anspannung und Überarbeitung entladen sich in emotionalen Ausbrüchen, die aber, weil sie offen ausgetragen werden, bisher immer zu einem noch festeren Zusammenhalt, einer noch herzlicheren Verbundenheit unter den Mitwirkenden geführt haben. Ich betrachte es als ein Geschenk, aus der Nähe mitverfolgen zu dürfen, WIE ZUKUNFT ENTSTEHT!

Damit ihr nicht meint, wir stünden allein da mit dieser Überzeugung, lasse ich den hoch angesehenen amerikanischen Psychologen Peter Gray zu Wort kommen. Er ist der Verfasser eines Standard-Werks zur Psychologie und Autor des Buches »Befreit lernen. Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt«, (Drachen Verlag, 2015). Übrigens war es sein kleiner Sohn, der ihn aufgeweckt hat, indem er sich konsequent weigerte, zur Schule zu gehen…

„Was die Zukunft der Bildung angeht, bin ich optimistisch. Ich bin zuversichtlich, dass wir als Kultur wieder zu Sinnen kommen und unseren Kindern die Freiheit zurückgeben werden, die Kontrolle über ihr eigenes Lernen zu übernehmen, damit Lernen als integraler Bestandteil des Lebens wieder eine freudvolle, aufregende Angelegenheit wird, keine deprimierende und angstvolle Mühsal.

Mein Optimismus rührt gewiss nicht von den etablierten Bildungsinstitutionen her. Dieses Establishment samt den dazugehörigen pädagogischen Fakultäten, der Schulbuch- und Prüfungsindustrie sowie den Lehrer- und Schulleiterverbänden ist so stark in Eigeninteressen und im Status quo verhaftet, dass es allenfalls dazu in der Lage ist, die immer gleichen Forderungen zu stellen: Wenn sich mal wieder herausstellt, dass Kinder in der Schule nicht genug lernen, hört man aus jener Richtung sogleich die lautstarke Forderung nach längeren Schultagen und mehr Hausaufgaben. Wenn 200 Stunden Unterricht in einem bestimmten Fach nicht reichen, wird vorgeschlagen, es mit 400 Stunden zu versuchen. Wenn die Kinder in der ersten Klasse nicht lernen, was ihnen beigebracht wird, sollte der Unterricht bereits in der Vorschule beginnen – und wenn sie es in der Vorschule nicht lernen, dann müssen wir eben schon im Kindergarten damit anfangen! Wenn Kinder über die Sommerferien das Wenige vergessen, was sie während des Schuljahres gelernt haben, dann sollten wir eben die Sommerferien abschaffen – und damit ihre Möglichkeiten zum Leben außerhalb der Schule weiter einschränken.

Fast alle, die im Bildungsbereich tätig sind, wünschen sich »Reformen« und erkennen damit implizit an, dass das gegenwärtige System nicht funktioniert. Das ist seit Einführung der Schulpflicht der Fall. Die einen wollen das System verändern, indem sie ihm einen Schubs in die eine Richtung geben (ein bisschen mehr Wahlfreiheit, ein bisschen weniger Leistungskontrolle), während die anderen es durch einen Schubs in die entgegengesetzte Richtung verändern wollen (ein noch stärker standardisierter Lehrplan, noch rigorosere Leistungskontrollen). Darüber gibt es zahlloser Bücher und Artikel von Bildungsexperten und Pädagogikprofessoren. Niemand im Bildungs-Establishment ist hingegen bereit zuzugeben, dass Zwangsbeschulung gerade deshalb nicht funktioniert, weil sie auf Zwang basiert, und dass die einzig sinnvolle Reform darin besteht, Kindern die Verantwortung für ihr eigenes Lernen zurückzugeben.

Die Tage des Schulzwangs sind gezählt. Mein Optimismus gründet sich auf das, was außerhalb der etablierten Bildungsinstitutionen passiert. Mich ermutigt der immer größer werdende Strom derer, die der Zwangsbeschulung den Rücken kehren und sich dem entspannten Homeschooling, dem Freilernen, Freien Schulen nach dem Modell der »Sudbury Valley School« oder anderen Bildungsformen zuwenden, die Kindern die Kontrolle über ihr Lernen selbst überlassen. Je repressiver das Schulsystem wird, desto mehr Menschen wenden sich davon ab – und das ist gut so.

Die Schulflucht wird auch durch die IT-Revolution begünstigt. Heutzutage hat jeder, der sich Zugang zum Internet verschaffen kann, Zugriff auf das gesamte Wissen und alle Ideen der Welt, die erfreulich geordnet und durch intuitive Suchmaschinen einfach auffindbar sind. Für fast alles, was man machen möchte, findet man Anleitungen im Internet. Für fast jede Idee, über die man nachdenken möchte, findet man Argumente und Gegenargumente und kann sich sogar an einschlägigen Diskussionen beteiligen. Das ist der intellektuellen Entwicklung weit zuträglicher als die vorgegebenen Lösungswege des Regelschulsystems. Weil die Vorstellung, man müsse zur Schule gehen, um etwas zu lernen oder kritisches Denken zu kultivieren, aus Sicht von Kindern, die wissen, wie man im Internet recherchiert, schlicht lächerlich ist, wird es schwerer und schwerer, eine Beschulung von oben herab zu rechtfertigen. Und da textbasierte elektronische Kommunikation beinahe so alltäglich wird wie mündliche Kommunikation, lernen immer mehr Kinder noch vor der Einschulung selbst Lesen und Schreiben, was wiederum die Eltern veranlasst, die Notwendigkeit der Zwangsbeschulung in Frage zu stellen.

Ich sage voraus, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft einen Wendepunkt erreichen werden. Jeder wird dann mindestens eine Person kennen, die ohne Regelbeschulung aufgewachsen ist und im Leben wunderbar zurechtkommt. Ganz normale Menschen werden fordern, dass Gesetze geändert werden, die den Schulbesuch verpflichtend machen oder die vorschreiben, wie Schule auszusehen habe. Dies wird es immer mehr Menschen ermöglichen, das System der Zwangsbeschulung ohne all die juristischen Verrenkungen zu verlassen, die dieser Schritt derzeit noch erfordert und die viele davon abhalten, den Schritt überhaupt zu wagen.

Wie bei allen großen gesellschaftlichen Veränderungen liegt der Schlüssel in unseren Vorstellungen darüber, was normal sei und was nicht. Vor noch nicht allzu langer Zeit betrachtete es die überwiegende Mehrheit als abnormal, homosexuell zu sein – man bezeichnete es als Sünde oder Krankheit, je nachdem, ob man eher religiösen oder weltlichen Betrachtungsweisen zugeneigt war. Es gibt immer noch Menschen, die das so sehen, aber nur wenige von ihnen sind jünger als dreißig Jahre. Die Maßstäbe haben sich verändert. Homosexualität wird heute mehrheitlich als ein normaler Bestandteil des Spektrums menschlicher Vielfalt betrachtet, genau wie auch Linkshänder nicht mehr für abnormal gehalten werden. Diese Veränderungen sind deshalb geschehen, weil einige mutige Homosexuelle den Sprung ins kalte Wasser gewagt haben und durch ihr Coming-out den Stolz auf ihre sexuelle Orientierung zum Ausdruck brachten. Da im Lauf der Zeit mehr und mehr Menschen entdeckten, dass einige ihrer geschätzten Freunde und Verwandten wie auch so manche gesellschaftlichen Idole homosexuell sind, wurde es immer schwieriger, Homosexualität zu verdammen oder als Krankheit zu bezeichnen.

Etwas Ähnliches wird meiner Ansicht nach im Bildungsbereich passieren. Je mehr Menschen persönlich Leute kennenlernen, die sich oder ihre Kinder nicht dem Schulzwang unterwerfen, desto schwieriger wird es, diese Entscheidung für abwegig zu halten. Und noch eine weitere Kraft ist hier am Werk: der natürliche menschliche Drang zu Freiheit und Selbstbestimmung. Aus der Geschichte wissen wir, dass Menschen sich für die Freiheit entscheiden, wenn ihnen diese Alternative umsetzbar erscheint. Wenn Erwachsene feststellen, dass Zwangsbeschulung für ein erfolgreiches Leben in ihrer Kultur nicht notwendig ist, wird es ihnen zunehmend schwerer fallen, sich gegen die Freiheit ihrer Kinder zu entscheiden, und auch die Kinder selbst werden diese Freiheit einfordern. Kinder werden nicht länger das Argument hinnehmen, sie müssten in den sauren Apfel der Beschulung beißen, weil dies notwendig oder gut für sie sei. Sobald mehr Menschen das Zwangsschulsystem verlassen, wird ein nennenswerter Teil der Wahlberechtigten die Forderung erheben, dass ein Teil der staatlichen Bildungsausgaben künftig zur Unterstützung selbstbestimmten Lernens verwendet werden solle – also um Bildungsmöglichkeiten anstatt Schulzwang zu finanzieren. Stellen Sie sich einmal vor, was man mit nur einem Bruchteil der etwa 600 Milliarden Dollar an Steuergeldern tun könnte, die gegenwärtig in den USA für Zwangsbeschulung jährlich ausgegeben werden!

Als Gesellschaft haben wir in der Tat die Verpflichtung, jedem Kind unabhängig von familiärem Hintergrund oder Einkommen reichhaltige Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Es gibt viele Wege, dies zu tun. Eine Möglichkeit wären Schulen, deren Besuch auf Freiwilligkeit, nicht auf Zwang basiert – vielleicht nach dem Vorbild der Sudbury Valley School –, wo die Kinder in einer Umgebung spielen, forschen und lernen könnten, die ihrer gesunden intellektuellen, körperlichen und moralischen Entwicklung zuträglich wäre. Pro Schüler kosten solche Schulen nur die Hälfte dessen, was wir gegenwärtig für Zwangsbeschulung ausgeben – das brächte große Einsparungen für die öffentliche Hand mit sich.

Eine andere Möglichkeit wäre ein Netzwerk gemeinschaftlicher Lernorte, die allen ohne Eintrittsgeld offen stünden. Stellen Sie sich einen Ort in ihrer Nachbarschaft vor, in dem Kinder und auch Erwachsene spielen, forschen, lernen und neue Freunde kennenlernen könnten. Computer, Material zur künstlerischen und sportlichen Betätigung sowie wissenschaftliche Gerätschaften stünden zum Spielen bereit. Menschen aus der Umgebung würden Kurse anbieten, etwa in Musik, bildender Kunst, Sport, Mathematik, Fremdsprachen, Kochen, Unternehmensführung, Buchhaltung oder anderen Dingen, die Menschen für amüsant, interessant oder wichtig genug halten, um sie sich in strukturierter Form anzueignen. Es gäbe keine Pflichtkurse, keine Noten, keine Einstufungen oder Vergleiche zwischen Menschen. Örtliche Theater- und Musikgruppen könnten dort auftreten, und Menschen jeden Alters könnten sich gemäß ihren jeweiligen Interessen zu neuen Lerngruppen zusammenschließen. Es gäbe eine Sporthalle und, je nach Möglichkeit, Felder und Wälder für das Spielen und Forschen an der frischen Luft. Kinder würden nicht deshalb an den Lernort kommen, weil sie müssen, sondern weil dort ihre Freunde sind und es dort so viele spannende Dinge zu tun gibt.

Die Geschicke eines solchen Lernorts könnten von allen, die ihm beitreten und ihn nutzen, im Stil einer Gemeinschaftsversammlung demokratisch mitbestimmt werden. Der Preis für die Teilnahme am Lernort wäre die Bereitschaft, die Regeln einzuhalten, und vielleicht auch die Bereitschaft, kleinere Aufgaben für seinen Betrieb zu übernehmen. Kinder wären genau wie Erwachsene stimmberechtigt. All dies könnte zu einem Bruchteil der Kosten geschehen, die gegenwärtig für die Zwangsbeschulung anfallen.

Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, was an die Stelle der Zwangsschule treten wird. Der Niedergang der Schulpflicht und der Aufstieg freier Bildungsmöglichkeiten wird allmählich erfolgen, auf längere Sicht jedoch wird das System der Zwangsbeschulung verschwinden. Wir werden dann erleben, wie die Epidemie von Angst, Depression und gefühlter Hilflosigkeit, unter der so viele junge Menschen heute leiden, zu Ende geht, wie die Fähigkeit der Kinder zur Selbstbestimmung wiederhergestellt und ihrem Wunsch nach Lernen in Freiheit Rechnung getragen wird.“

Peter Gray, geboren 1946, ist evolutionärer Entwicklungspsychologe, Bildungsexperte und Autor der bereits in siebenter Auflage erschienenen Einführung »Psychology«. Er lehrte am Boston College, USA. Gray erforscht die kindliche Entwicklung aus evolutionsbiologischer Perspektive. Als entschiedener Kritiker des Schulzwangs bezeichnet er Regelschulen mit Schulanwesenheitspflicht als Gefängnisse. Die Inhaftierung junger Menschen aufgrund ihres Alters hält er für unvereinbar mit den demokratischen Grundwerten. Grays besonderes Forschungsinteresse gilt der Bedeutung des Spiels beim natürlichen, selbstmotivierten Lernen. So lernten Kinder in indigenen Jäger- und-Sammler-Gesellschaften alles, was sie zum Leben bräuchten, aus dem freien Spiel in altersgemischten Gruppen. Diese Erkenntnis ist auch für uns Menschen des 21. Jahrhunderts von hoher Relevanz, denn während 99 Prozent unserer Geschichte waren auch wir Jäger und Sammler – und sind es, genetisch betrachtet, noch heute. Die Zeitschrift »Psychology Today« veröffentlich regelmäßig einen Blog von Peter Gray: www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn

Über die Freilerner, denen ich den Hinweis auf Peter Grays Beitrag verdanke, und ihre gerichtlichen Auseinandersetzungen berichte ich euch das nächste Mal…

Herzlichste Vorfrühlingsgrüße! Alexandra und Sibylle