Jahreswechsel 2017/2018

Jahreswechsel 2017/2018


Liebe Scholé-Freunde,

Wie angekündigt möchte ich das Jahr 2017 mit einem kurzen Rückblick beschließen. Für Scholé war es ein Jahr der Umbrüche, Neuordnungen und Grenzverschiebungen: Immer klarer konnten wir erkennen, dass selbstbestimmtes Lernen nicht nur den kleinen Kreis der Unschooler betrifft, sondern über kurz oder lang tiefgreifende Auswirkungen auf jedes Kind und damit auf die gesamte Gesellschaft haben wird. Das Jahr begann mit intensiven Überlegungen zu André Sterns erstem Ökologie der Kindheit-Kongress: Dabei ging es vor allem darum, die Thematik des freien Lernens in einem weiteren Zusammenhang zu betrachten.

Aus der Vogelperspektive erkennt man ganz deutlich die Parallelen zwischen dem veränderten Blick auf die NATUR, den die Ökologiebewegung schon Anfang der 1970er Jahre eingeleitet hat, und der veränderten Haltung gegenüber der NATUR DES KINDES, um die es den Freilernern geht: Das eine ist vom anderen nicht zu trennen, und erst wenn beides den Menschen gleichermaßen selbstverständlich geworden ist, wird unsere Gesellschaft den nächsten Evolutionssprung schaffen: Vom globalen Raubbau an den natürlichen Ressourcen zu nachhaltigen Lebensformen; von der Konkurrenz zwischen Einzelnen, Nationen, Religionen, Ideologien usw. zu einer Weltgemeinschaft gleichberechtigter und selbstbestimmter Erdenbürger.

„Gutes Leben für alle“ war der Titel eines großen Kongresses, den die Stadt Wien im Februar an der neuen WU veranstaltete. Auch dort ging es um ökologisches Denken und Handeln, Gemeinwohlökonomie, Gerechtigkeit. In den zwei Seminaren, die ich besucht habe, erzählte ich den TeilnehmerInnen natürlich über selbstbestimmtes Lernen, was bei den Älteren noch Misstrauen hervorrief, bei den Jüngeren aber schon auf große Resonanz stieß 🙂 Ähnliches erlebte ich im Sommer beim Forum Alpbach, wo sich mehrere hoch gebildete junge Leute für das Thema Freilernen begeistern ließen.

Auf Einladung einer begnadeten Netzwerkerin, der engagierten ehemaligen VS-Lehrerin Ingrid Teufel, traten Sibylle und ich dem Verein „jedes Kind“ bei. Anfangs wurde ich von den meisten Mitgliedern etwas entgeistert angesehen, als ich ihnen erklärte, dass ich bei „jedes Kind“ die winzige Minderheit der Freilerner vertreten möchte. Freilerner? Was ist das? Jetzt, kaum ein Jahr später, ist der Begriff allen vertraut. Ich hoffe sehr, dass der Verein sich an unserem für 2018 geplanten Projekt „Wertschätzungskommission statt Prüfungskommission“ beteiligen wird! Eigentlich wäre ein solches Projekt ja die logische Fortsetzung der Studie Wertschätzen statt Beschämen, die „jedes Kind“ 2017 in Zusammenarbeit mit der Universität Wien erstellt hat und zu der ich einen Beitrag über Strukturelle Beschämung beisteuern durfte (alle Texte sind auf www.jedeskind.org nachzulesen).

Im März hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art: Als Abgesandte des Netzwerks der Freilerner nahm ich an einer Barbara Karlich-Show zum Thema Erziehung teil. Ich fand, es wäre eine gute Gelegenheit, „den Menschen da draußen“ zur Kenntnis zu bringen, dass es so etwas wie Freilernen überhaupt gibt 🙂 Wider Erwarten waren alle sehr freundlich und verständnisvoll, Barbara Karlich selbst verabschiedete sich von mir sogar mit den Worten: „Ich bewundere die Freilerner! Leider fehlt mir selbst der Mut dazu.“ Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet…

Eine hoch interessante Einführung in die Bildungsgeschichte erhielt ich durch mehrere Vorträge von Axinia Samoilova. Weil sich das moderne westliche Bildungsmodell im 20. Jahrhundert weltweit durchgesetzt hat, sind die klassischen Bildungsideale der Inder, der Chinesen, der islamischen Welt und auch Russlands zu Unrecht in Vergessenheit geraten. In ihrer Verschiedenheit vermitteln sie tiefe Einblicke in die charakteristischen Besonderheiten der Kulturen, denen sie entstammen. Darüber hinaus hob jede von ihnen zwar bestimmte Facetten der menschlichen Natur hervor, doch im Gegensatz zur derzeitigen verstandeslastigen Schule verloren sie darüber das ganzheitliche Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist nicht aus den Augen.

Im April wurde der Scholé-Grund in Scheiblingstein neu besiedelt: Ein junger Kindergartenpädagoge aus Klosterneuburg stellte eine Hütte auf, ließ morsche Bäume fällen und pflanzte gemeinsam mit zwei begeisterten Hobbygärtnerinnen Beerensträucher und Gemüse, um ab dem nächsten Jahr mit Kindern dort gärtnern, spielen und experimentieren zu können. Ich hoffe, dass auch seine Bemühungen um gute Nachbarschaftsbeziehungen Früchte tragen werden!

Der Mai brachte die feierliche Eröffnung des neuen Colearning-Standorts im 3. Bezirk: MARKHOF, das Dorf in der Stadt. Mit sehr viel Mut und persönlichem Einsatz haben sich die Gründer des CLS dort ihren Traum vom gemeinsamen Lernen, Arbeiten und Wohnen erfüllt: Die ehemalige Druckerei, ein Industriebau aus den 1920er Jahren, wurde von Grund auf saniert und umgebaut. Neben dem Lernzentrum beherbergt das Gebäude einen Coworking Space mit fixen und flexiblen Arbeitsplätzen, Werkstätten, Ateliers, Seminarräume, ein Café und eine Food-Coop. Im Lernzentrum treffen sich von Montag bis Donnerstag mehr als 40 Kinder zwischen 0 und 17 Jahren. Die Altersmischung gehört zu den erstaunlichsten und fruchtbarsten Besonderheiten dieses wunderbaren Ortes, wo ich einen Tag pro Woche verbringe und jedes Mal Neues dazu lerne. Mir lacht das Herz, wenn ich sehe, wie offen und herzlich Kleine und Große miteinander umgehen, lernen, kochen, putzen, persönliche Konflikte austragen oder einander trösten und bestärken. Was werden diese Mädchen und Buben, die wie in einer Großfamilie mit Babys und Kleinkindern zusammen aufwachsen, einmal für wunderbar entspannte Eltern sein…!

Die zahlreichen Besucher und die vielfältigen Aktivitäten, die dort allwöchentlich stattfinden, machen den MARKHOF zu einem außerordentlich spannenden sozialen Experimentierfeld. Noch weiß niemand, was die Kinder, die das Glück haben, in diesem Ambiente aufzuwachsen, für ihr Leben alles mitnehmen und was sie selbst daraus machen werden. Fest steht, dass sie alle herausfinden dürfen, wer sie wirklich sind und was sie begeistert. Dass sie nach wenigen Wochen alle wissen, wie man seine Wohnung in Ordnung hält und sich gesund ernährt. Dass sie alle lernen, mit Menschen verschiedenster Herkunft und aller Altersstufen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Dass sie (wieder) Selbstvertrauen und intrinsische Motivation entwickeln, die einen schneller, die anderen langsamer. Für Jugendliche, die viele Jahre Schule hinter sich haben, ist das keine leichte Aufgabe. Und auch viele Eltern können es sich nicht so rasch abgewöhnen, das Abschneiden ihrer Kinder bei den Jahresprüfungen wichtiger zu nehmen als deren menschliche Reifungsprozesse… Ein weiterer Grund, energisch dafür einzutreten, dass durch Wertschätzungskommissionen endlich auch wissenschaftlich bestätigt wird, wie hoch Selbstbewusstsein, Eigenmotivation, Kreativität, Verantwortungsgefühl und soziale Kompetenzen einzuschätzen sind – ja, dass OHNE diese Eigenschaften sogar die besten Schulzeugnisse letzlich wenig wert sind…!

Zu meiner großen Freude wird mich Prof. Karl Garnitschnig, emeritierter Bildungswissenschaftler, Philosoph, Theologe, Psychotherapeut und Vorsitzender der Österreichischen Janusz Korczak Gesellschaft, am 12.1. in den Stadtschulrat begleiten. Dort möchten wir die Einrichtung einer ersten Wertschätzungskommission für Freilerner, Schulverweigerer und Schulabbrecher anregen. Falls uns dies gelingt, gäbe es bald auch in Österreich wissenschaftliche Beweise für die staunenswerte Vielfalt an individuellen Lernstrategien. Nicht anders als in den bereits existierenden Studien aus dem angelsächsischen Raum würde sich dabei überdies herausstellen, wie sehr NACHHALTIGES Lernen von der Eigenmotivation abhängig ist. Und das hätte früher oder später natürlich Auswirkungen auf JEDES KIND!

Ein Höhepunkt des Jahres 2017 war die Redaktion unseres Buches LERNEN IST WIE ATMEN. Die Zusammenarbeit mit Sigrid Haubenberger und Gudrun Totschnig verlief so harmonisch, dass wir jedes einzelne Arbeitstreffen genossen haben wie ein Fest. Zum Glück wird es eine Fortsetzung geben: Nach der Präsentation des Buches am 15. Dezember im MARKHOF freuen wir uns alle drei schon auf gemeinsame Lesereisen oder Veranstaltungen im kommenden Jahr!

Im September habe ich bei einem Wochendendtreffen der Freilerner in Annaberg viele Freilernerfamilien zum ersten Mal persönlich kennengelernt, was eine große Freude für mich war. In Erinnerung an Schulschikurse und ähnliche Veranstaltungen kann ich ermessen, wie groß der Unterschied zwischen Schülern und Kindern ist, die ihr Leben ohne Druck und Zwang verbringen: Sie gehen achtsam miteinander um und verspüren keinerlei Bedürfnis, über die Stränge zu schlagen, um Druck abzulassen oder anderen zu imponieren.

Ein Ereignis war am 18. Oktober der Vortrag der Amerikanerin Naomi Aldort, deren Buch „Von der Erziehung zur Einfühlung“ Zehntausende Eltern in aller Welt zu einer respektvolleren Haltung ihren Kindern gegenüber inspiriert hat. Als Familientherapeutin und Mutter von drei bereits erwachsenen Söhnen, die ohne Schule aufgewachsen sind, ist sie für ratsuchende Eltern die ideale Anlaufstelle. Sie hat einen eigenen Blog und bietet auch Beratungen über das Internet an.

Zu dem Kongress ÖKOLOGIE DER KINDHEIT am 25.11. kamen 300 Teilnehmer nach Mauerbach bei Wien. Begleitet von wunderbaren Musikerinnen erlebten sie tatsächlich wieder einmal Sternstunden: Der 93-jährige ARNO STERN hielt einen eindrucksvollen Bilder-Vortrag über die Entstehung des Malspiels und seine Entdeckung der Formulation, eine allen Menschen gemeinsame organische Erinnerung, die sich in der absichtslos erzeugten Malspur manifestiert.

Der frühere Förster und Holzexperte ERWIN THOMA begeisterte die Zuhörer mit seinem lebendigen Bericht darüber, wie er das traditionelle Wissen der Salzburger Bauern, Zimmerleute und Holzfäller wiederentdeckte. Dank verbesserter Messmethoden ist dieses alte Wissen nun auch wissenschaftlich überprüfbar. Es lehrt uns, dass wir Menschen mit allen lebenden Geschöpfen verbunden und existenziell aufeinander angewiesen sind. KATJA SAALFRANK aus Berlin berichtete von ihrer Arbeit als Elternberaterin.

Und ANDRÉ STERN erzählte auf seine unnachahmliche Weise von ganz persönlichen Erfahrungen als unbeschultes Kind und als Vater zweier ebenso frei aufwachsender Söhne. Was er dabei gelernt hat, passt mit den Erkenntnissen der modernen Forschung ebenso perfekt zusammen wie mit uralten Weisheitslehren.

Die Übung der Achtsamkeit halte ich für das kostbarste Geschenk des Buddhismus an die Welt. Indem sie Körper, Gefühl und Geist verbindet, eröffnet die Achtsamkeit jedem Menschen seinen persönlichen Zugang zur Spiritualität und damit zur freien Entfaltung aller seiner Gaben. Als kollektive Achtsamkeitsübung betrachte ich die Aufstellungsarbeit, die mir deshalb besonders am Herzen liegt.

Mit einem Kreis von etwa 20 Mitgliedern des Netzwerks „Achtsame Pädagogik“, das der Bildungswissenschaftler Karlheinz Valtl ins Leben gerufen hat, durfte ich am 13. Dezember eine Aufstellung machen. Thema: Wie kann das Netzwerk achtsame Pädagogik wirken? Dabei habe ich nicht einfach die KINDER, sondern ganz bewusst SCHÜLER und FREILERNER getrennt aufgestellt.

Die FREILERNER, dargestellt von einem jungen Sozialforscher, waren die einzig Zufriedenen – sie standen weit weg von allen anderen, fühlten sich frei und zugleich mit dem Erdboden unter ihren Füßen verbunden.

Die LEHRER waren so belastet, dass sie sich kaum aufrecht halten konnten.

Die SCHULVERWALTUNG hatte zu niemandem Kontakt, stand vollkommen starr in der Mitte, sah über alle hinweg und war nur mit sich selbst beschäftigt.

Die BILDUNGSWISSENSCHAFT kletterte auf einen Tisch und gab von oben herab den anderen gute Ratschläge. Gegen Ende stieg sie jedoch herab und bekundete nun plötzlich Interesse an den FREILERNERN (!)

Die PÄDAKS (Pädagogische Hochschulen) waren in sich zerrissen und nahmen sich der armen LEHRER erst an, als diese zusammenbrachen.

Die ELTERN versuchten die SCHÜLER im Auge zu behalten, kannten sich aber überhaupt nicht aus; gegen Ende empfanden sie großes Mitleid mit den so schwer belasteten LEHRERN.

Die mächtigste Position im Mittelpunkt des Geschehens hatten die MEDIEN. Sie waren sich ihrer zentralen Rolle wohl bewusst – ihre Kälte und Arroganz verstörten die arme Darstellerin, die zum ersten Mal an einer Aufstellung teilnahm!

Die SCHÜLER setzten sich zunächst trotzig gleich neben die MEDIEN und meinten, diese seien ihre Lehrer (!) Dann kehrten sie der ganzen Szenerie den Rücken – was LEHRER, PÄDAKS und SCHULVERWALTUNG nicht einmal merkten, weil sie gar keinen Kontakt zu den SCHÜLERN hatten – und schauten vom Rand des Feldes in die Welt hinaus, wo ihnen die WIRTSCHAFT Abenteuer im wirklichen Leben zu versprechen schien…

Für das NETZWERK ACHTSAME PÄDAGOGIK war es vor allem wichtig, ganz auf den Boden zu kommen, denn nur von dort, sozusagen aus dem Untergrund, konnte es seine Wirkung entfalten und die LEHRER unterstützen, die seine Hilfe am dringendsten brauchten.

Ich bin neugierig, welche Langzeitwirkung diese Aufstellung haben wird… Auf jeden Fall kann auch sie dazu beitragen, das Thema Freilernen im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu verankern – was ja der heimliche Zweck der Übung war 🙂

Für 2018 wünschen wir uns, euch und allen Wesen von Herzen Wertschätzung, Achtsamkeit und Freude!

Alexandra und Sibylle